Gabriele Schettlers Examensarbeit der Freien Kunst: Installation im Dock 4, Kassel
6 Galeriegrundrisse im Maßstab 1 : 25, Öl
auf Nessel, 90 x 110 cm Aquarium 80 x 40 x 35, roter Stoff Acryl auf Wand, Buch
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Ein Künstler ist einem Zauberer ähnlich. Er versucht etwas zu tun, was unmöglich zu sein scheint - er nimmt lebloses Material, wie Farbe, Stein oder Ton, und verwandelt es zu lebendiger Form. Der Künstler ist vergleichbar mit einem Menschen, der einem Blinden die Welt zu beschreiben versucht.
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Fred Gettings, Das Buch der Kunst für junge Leser Der große Traum.
Vielleicht begann er mit der großen, unstillbaren
Sehnsucht. Damals, in seinem jugendlichen Herz, nahmen diese Dinge viel Raum ein und gingen mehr noch in die Tiefe. Aber was waren diese "Dinge"? Da gab es zum Beispiel den Wind. Er bewegte die Blätter des Baumes und berührte seine Haut. Dieses Fleckchen Wind, das ihn für einen winzigen Moment streifte, war sofort wieder weg, über die Straße, über die Häuser, über den Wald, unwiderruflich verloren für ihn. Der Wind lebte als ewige Vergangenheit und als ewige Zukunft, und er, mittendrin, wurde sich seiner Augenblicklichkeit bewußt. Auch die Dämmerung mußte, ähnlich wie der Wind, unaufhörlich fortschreiten, bis in die Nacht. Aber da sie ihr Schauspiel vor seinen Augen ausbreitete, empfand er ihre Erscheinung noch schmerzlicher. Fast unmerklich mischte sie immer wieder ein Tröpfchen Nacht unter, und im Moment der Schwebe, wo Tag und Nacht gleiche Anteile hatten, wünschte er, er könne die Zeit anhalten und ihr Bild vor dem Verschwinden bewahren. Um vieles großartiger noch als Wind und Dämmerung war das Gewitter. Es hatte eine Bestimmung, ein Ziel, Anfang und Ende. Es war wild und unvorhersehbar und inszenierte sich selbst mit einer eigenen Strategie. Leidenschaftlich genoß er den Moment der geronnenen Zeit, wenn es sich ankündigte in Form von völliger Stille, als wollte das Gewitter ihm einen Augenblick der Dauer schenken, bevor es rundherum alles veränderte. Es zerstörte einen Zustand, um einen neuen hervorzubringen. So wurden die Naturerscheinungen zu Sinnbildern seines Wunsches: aus dem großen Gefühl, an dem er litt, etwas zu erschaffen, das mindestens ebenso gewaltig, eindrucksvoll und ergreifend war - etwas Einzigartiges, das Bestand hatte und den Augenblick überdauerte.
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Gab es nicht in der Kunst die Möglichkeit, die
Welt neu zu erschaffen? Konnte nicht der Künstler
in unvergleichlicher Weise seine Gedanken, Stimmungen
und Sehnsüchte zum Ausdruck bringen, indem er
ein Bild malte, eine Skulptur formte? Und besiegte
er letztendlich nicht das Flüchtige, Augenblick-liche,
indem er ein Bild davon machte? Die großen Kunstwerke, in die er sich vertiefte, schienen ihm Juwelen von unschätzbarem Wert. In ihnen wurde das Ungreifbare seiner Sehnsucht zu Farbe und Form. Sie sprachen vom Wesen der Dinge und des Lebens. Sie erstrahlten in Schönheit, weil ihnen eine Wahrhaftigkeit innewohnte, die außerhalb der Wirklichkeit lag. Durch sie konnte er den Raum betreten, der sich zwischen den Erscheinungen und seiner Gegenwart befand. Wie in ein Abenteuer tauchte er ein in die Welt der Kunst. Caspar David Friedrich streichelte sein romantisches Herz, Cézanne belebte es, Picasso elektrisierte es. Er war fasziniert von ihrer Eigenwilligkeit, ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Gabe, die Wirklichkeit immer wieder neu zusammenzusetzen. Waren Künstler nicht köstliche Geschöpfe? Feinfühlig, exotisch, schwermütig, verletzlich, selbstherrlich, exzentrisch - sie konnten sein wie sie wollten, weil sie nicht im gleichen Strom schwammen wie die anderen Menschen. Sie konnten nach Lust und Laune arbeiten, nur sich selbst und ihrer Kunst verpflichtet.
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Solch ein Lebenslauf war ganz nach seinem Herzen, und
der Traum vom großen Künstler pflanzte sich
tief in ihm ein. Er begann zu zeichnen und zu malen,
oft stundenlang, so daß die Menschen um ihn herum
schon anfingen, ihn für sonderbar und eigenbrötlerisch
zu halten. Seine Beschäftigung mit der Kunst konnten
sie so ganz und gar nicht einordnen in ihren Lebenszusammenhang,
da diese Sache doch eigentlich zu nichts nütze
und im Grunde Zeitverschwendung sei. Aber solcherart
Kritik schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit, denn er
wußte, ein wirklicher Künstler mußte
sich immer wieder gegen seine Umgebung durchsetzen
und hartnäckig seine Ziele verfolgen. Auch wenn
die Anerkennung zunächst ausblieb, die Kunst verlangte,
daß man sich ihr als würdig erwies, indem
man diese Zeit der Probe bestand: man mußte hungern,
bevor man berühmt wurde. Und schließlich
gab es die Möglichkeit, daß seine Begabung
irgendwann entdeckt würde.
Trotz seiner Überzeugung, daß die künstlerische
Arbeit die einzig wahre Beschäftigung sei, für
die es sich zu leben lohne, kostete es große
Anstrengungen, das eigene Tun verteidigen zu müssen
oder die landläufige Meinung zu widerlegen, ein
Künstler könne einer geregelten Arbeit nachkommen.
Konnte ein Fisch auf dem Trockenen schwimmen? Der Künstler
mußte sich in einem Element der schöpferischen
Freiheit bewegen. Ruhm bedeutete die Anerkennung seiner geschaffenen Werke in der Öffentlichkeit. Erst dann, wenn diese gesehen und geschätzt würden, fingen sie an zu existieren und ihr eigenes Leben zu führen. Für den Künstler bedeutete Ruhm, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, bewundert und geliebt zu werden. Und nur durch seine Kunst würde er die ersehnte Gewißheit erlangen, daß ein Teil aus seinem Herzen unsterblich geworden ist. Der große Traum. Vielleicht beginnt er immer wieder. Gabriele Schettler, Juli 1996
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