Sprüche aus Kindertagen
verankerten sich in mir, sicher lange vor meinen
jetzigen Erinnerungen,
nämlich in Zeiten, als mir der Sinn und das
Verständnis für Text und dessen Bedeutung
noch nicht bewußt waren,
ich Zusammenhänge noch nicht begriff.
Wahrscheinlich begann ich irgendwann
Wortfetzen zu visualisieren, unverständliche
Zusammenhänge der Phrasen durch
die Phantasie der eigenen fragmentarischen
Bilder doch zu verstehen.
Bilder entstanden in meinem Kopf,
erlebte, nichterlebte, individuelle
oder kollektive - sie verfestigten sich in mir.
Die Macht der Erziehenden und Benutzenden
gab diesen Sprüchen durch ständige
Wiederholung eine allgemeine Gültigkeit,
mit der Lebensphilosophie vorgegaukelt wurde.
Allgemeingültigkeit gab es jedoch nicht
in meinem Verständnis,
ich bezog alles auf meine kleine Welt,
die sich Familie nannte, und nahm an,
daß es nur zu mir oder meinen Geschwistern
passende Sprüche seien.
Die Trivialität der Sprüche wurde mir erst
sehr
viel später bewußt, auch mein kindlich naiver
Irrglaube der Individualität dieser Platitüden
verschwand und ich stellte fest, daß ich nicht
die einzige bin, die mit der allseits verwendbaren
Moral gepredigter Lebensweisheiten
aufgewachsen ist.
Zweimal am Tag versammelten sich alle
zum gemeinsamen Mittag- und Abendessen am
großen Küchentisch, bis auf unsere Oma
- sie saß am 'Katzentisch'.
Die Eltern saßen sich an den Stirnseiten des
Tisches gegenüber, die drei Brüder hinten
auf
der Eckbank. Wir drei Mädchen saßen vorne.
Im Winter gab es sonntags oft
Kirschen zum Nachtisch. Jedesmal ging es
darum, das Aufteilen zu übernehmen, denn so
war es möglich, ab und zu eine Kirsche
unbemerkt im Mund verschwinden zu lassen.
Mit dem Kirschenessen begann auch die
gegenseitige Kontrolle, ob nun wirklich alle die
gleiche Anzahl in ihren Schälchen hatten.
In der Mitte des Tisches stand ein Teller
für die Kirschsteine. Wenn unsere Eltern
unaufmerksam waren, wurden die Steine nicht
ordentlich auf den Teller gelegt, sondern die
Löffel verwandelten sich zu Steinschleudern:
es ging darum, den Teller zu treffen.
Ein Heidenspaß, bis die große Hand des Vaters
sich in die Luft hob und mit einer Wucht auf den
Tisch schlug, daß sich die Kirschen in der
Schale bewegten. Absolute Stille folgte, und
mein Vater brüllte: "Sind wir hier denn in
einer Judenschule?"
In der Siedlung wohnte Familie Hampel.
Unser Garten grenzte an die Siedlungsstraße.
Immer wenn ich jemanden von dieser
Familie sah, fragte ich mich, wie es bei ihnen
wohl unter dem Sofa aussehen würde.
Ich wünschte mir oft, sie würden mich
einmal zu sich einladen, was aber nie passierte.
Erst sehr viel später merkte ich, daß es
hieß:
Hier sieht's aus wie bei Hempels unterm Sofa.
Ein Auto kam auf den Hof gefahren - so etwas
geschah selten. Das Auto war oben offen,
meine Brüder und ich standen am Fenster und
fragten uns, was das wohl für ein Besuch sein
könnte. Plötzlich sah ich, wie mein Vater
mit
großer Freude auf dieses Auto zuging und den
Mann, der in diesem Auto saß, herzlich begrüßte
- wir kannten diesen Mann nicht. Das Auto war
ein Bundeswehrjeep, so ein Auto hatte ich
schon einmal gesehen, als Manöver war.
Meine Brüder und ich liefen hinaus, so ein Auto
auf unserem Hof, das war einfach aufregend.
Mein Vater sagte: "Das ist mein Kriegskamerad"
- doch der Mann hat uns gar nicht interessiert.
Der Fremde fragte uns, ob wir Lust hätten, mit
ihm in diesem Auto zu fahren - plötzlich ließ
mein
Interesse an dem Jeep nach. Ich suchte Schutz
bei meinem Vater, der aber sagte: "Ich erlaube
euch mitzufahren". Meine Brüder saßen
schon
im Auto und freuten sich riesig, nur bei mir kam
diese Freude nicht auf. Ich fragte meinen Vater,
ob er mitfahren würde, er sagte aber nein. Ich
war traurig, denn ich wollte so gerne mitfahren,
aber nicht ohne meinen Vater. Meine Brüder ver-
suchten mich zu locken und sagten, ich brauche
doch keine Angst zu haben - hatte ich aber.
Fast jeden Tag, wenn ich zur Schule ging,
hatte mir meine Mutter gesagt:
"Geh nie mit fremden Männern mit."
Ich ging zu meiner Mutter und sagte,daß ich
nicht mitfahren will und dann sagte ich ihr auch
warum. Meine Eltern lachten und der fremde
Mann auch.
In der Nachbarschaft wohnte eine
ganz alte Frau. Oma Juretschke ging zum
Milchholen immer an unserem Zaun vorbei.
Wenn mein Bruder und ich auf
dem Hof spielten, rief sie uns. Wir liefen dann
zu ihr hin und sie griff mit ihren schrumpeligen
Händen in ihre große grüne Schürze,
um die
leckeren Malzboltschen herauszuholen, die sie
uns dann durch den Zaun steckte.
Wir sagten danke und liefen schnell weg,
denn wir fragten uns immer,
ob Oma Juretschke wohl die Hexe
von Hansel und Gretel wäre.
Die Bonbons schmeckten uns aber so gut,
wir steckten sie immer gleich in den Mund.
Einmal hat unsere Oma uns gefragt, wo wir
denn die Boltschen her hätten, wir sagten es ihr,
sie bekam so einen komischen Blick und sagte:
"Nehmt nichts von Fremden".
Von da an versteckten wir uns zum Essen dieser
Köstlichkeit immer hinter der Miste.
Nur manchmal abends im Bett fragten wir uns,
ob der liebe Gott wohl alles gesehen hat?
Mädchen, die pfeifen
und Hühnern, die kräh'n,
sollte man beizeiten
den Hals umdreh'n.
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